Manuskripte

 

 

 

Die Schlange am Postschalter wurde einfach nicht kürzer. Heike stöhnte auf, als sie sah, dass die alte Frau ihre Geldbörse auf dem Tresen ausschüttete und die Postangestellte langsam begann, das Kleingeld zu zählen.

Endlich!

Nachdem die Dame ihre zwei Briefmarken umständlich in der Tasche verstaut, ihre Gehilfe dem hinter ihr stehenden Mann auf den Fuß gerammt  – er ertrug es wie ein wahrer Held, lediglich die Hand, in der er keinen Brief trug, ballte sich zur Faust – und sie sich langsam zum Ausgang bewegte, mussten nur noch vier Leute vor ihr bedient werden.

Eine halbe Stunde nachdem sie die Postfiliale betreten hatte, konnte Heike ihre fünf großen braunen Umschläge der Post übergeben.

Wieder einmal startete sie den Versuch, eines ihrer Manuskripte an den Mann, beziehungsweise Verlag zu bringen. Das vierte Manuskript.

Sie gehörte unter den Schriftstellern noch zu den Jägern und Sammlern – sie jagte einem Verlagsvertrag hinterher, sammelte aber im Augenblick nur Absagen.

Sorgfältig brachte sie die Quittungen für die Einschreiben in ihrer Tasche unter, schickte ein Stoßgebet zum Himmel, auf dass es endlich mit einem Vertrag klappen würde und wandte sich dem Ausgang zu.

Durch die Glastür sah sie, dass es wieder zu schneien begonnen hatte. Mal wieder. Was die Leute nur an weißer Weihnacht so begeisterte. Sie schlug den Kragen ihrer braunen Steppjacke hoch, überprüfte den Sitz ihrer Norwegermütze, zog die Handschuhe an und stürzte sich todesmutig in den Schneesturm.

Normalerweise benötigte sie nur zehn Minuten, um den Weg zu ihrer Wohnung zurückzulegen. Doch das Wetter hatte sich gegen sie verschworen. Mit voller Wucht trieb der Wind den Schnee, der sich schon bald in winzige scharfe Eiskristalle verwandelte, in ihr ungeschütztes Gesicht.

Vollkommen durchgefroren erreichte sie nach vierzig Minuten die Haustür und schloss sie auf.

„Guten Morgen, Frau Hannemann.“ Der Postbote, der gerade die Briefe in den Kästen deponierte hatte, lächelte sie an. „Heute ist für sie auch was dabei. Ist schon im Briefkasten. Ich wünsch ihnen ein frohes Fest.“ Er grüßte noch einmal und verließ mit einem lustigen Pfeifen das Haus. Er war eine Frohnatur, dem nichts, noch nicht einmal ein tobender Schneesturm, die gute Laune verderben konnte.

„Frohe Weihnachten. Und fahren sie bloß vorsichtig.“ Mit vor Kälte steifen Fingern angelte Heike die zwei Umschläge aus dem Briefkasten.

Hm… Zwei Mal Random House. Zwei dünne Umschläge. Sie seufzte. Also, wieder zwei Absagen.

Sie stapfte die Treppe zu ihrer Wohnung in der zweiten Etage hoch.

Nachdem sie ihre nasse Kleidung zum Trocknen ins Bad gehängt hatte, ließ sie sich mit einem Seufzen auf die beige Wohnzimmercouch fallen und öffnete die Briefe.

„Sehr geehrte Frau Hannemann“, las sie im Brief des Heyne-Verlages. „Leider sehen wir keine Möglichkeit, das von Ihnen angebotene Projekt in unser Verlagsprogramm aufzunehmen…“

Heike griff nach dem schwarzen Aktenordner neben der Couch und heftete die Absage zu den anderen.

Dann öffnete sie den zweiten Brief. Blanvalet.

„Sehr geehrte Frau Hannemann. Leider hat uns ihr Manuskript nicht überzeugt…“

Ab, zu den übrigen Absagen.

Sie blätterte den dicken Ordner durch. Es war schon eine erklägliche Anzahl Briefe zusammen gekommen. Sie seufzte. Dabei war sie sich – mal wieder – sicher, dass ihr Manuskript gefallen würde. Auch ihre „Beta-Sklaven“, darunter zwei Germanisten, die ihre Arbeiten immer sehr kritisch bewerteten, waren der Meinung, dass sie den Geschmack der Fantasy-Verlage getroffen hätte.

Müde rieb sie sich die Augen. In den letzten Tagen hatte sie mal wieder einmal schlecht geschlafen. Immer wieder hatte sie den gleichen Traum. Und wie immer, wollte sie daraus eine Geschichte zusammenstellen.

Das Klingeln der Türglocke riss sie aus ihren Grübeleien.

Mit einem Seufzen erhob sie sich.

Vor der Tür standen drei ihr unbekannte Männer. In ihren langen, schwarzen Mänteln und mit ihren dunklen Sonnenbrillen sahen sie äußerst merkwürdig aus.

Wer trägt schon bei einem Schneesturm oder in einem dunklen Flur eine Sonnenbrille? Das sind Verrückte. Mist! Dachte sie. Ich hab die Kette nicht vorgelegt.

„Ja, bitte?“ Sie beschloss, diese Kerle schnell abzuwimmeln und bereitete sich darauf vor, die Tür schnell vor deren Nase zuzuschlagen.

„Frau Hannemann? Heike Hannemann?“

Heike nickte.

Noch bevor sie reagieren konnte, schoss die Hand des mittleren Mannes vor und umfasste ihr Handgelenk.

Augenblicklich wurde ihre schwarz vor Augen.

Sie erwachte davon, dass ein Presslufthammer mit aller Macht versuchte, ein Loch in ihren Schädel zu schlagen. Zumindest fühle es sich so an.

„Sie wacht auf“, hörte sie wie durch Watte.

„Frau Hannemann?“

Heike setzte sich stöhnend auf und blickte in die Runde.

Sie befand sich offenbar in einem Kellerraum. Außer dem Sofa, auf dem sie bis vor wenigen Augenblicken gelegen hatte, war der Raum vollkommen leer. Die nackten, kalten Betonwände verbreiteten eine düstere Stimmung. Die drei Männer in ihrer merkwürdigen Maskerade starrten sie an.

„Wo bin ich? Was wollen Sie von mir?“ Die Kopfschmerzen hatten ein erträgliches Maß erreicht. Gleichzeitig erfüllte sie Wut über ihre Entführung.

„Das ist einerlei. Woher haben sie die Ideen für ihre Geschichten?“, wurde sie gefragt.

„Wie bitte? Was soll das? Die fallen mir halt so ein. Meist träume ich sie. Was soll diese Fragerei?“ Heike war verwirrt.

Die drei Männer blickten sich an.

„Haben sie wieder eine Geschichte geschrieben? Wovon handelt sie? Haben sie sie schon an Verlage geschickt?“, ratterten sie Fragen auf sie ein.

Trotzig antwortete Heike: „Ich habe heute – ich denke einmal, dass es heute war oder wie lange bin ich schon hier? – ein neues Manuskript verschickt. Was darin steht, können sie lesen, wenn es als Buch in den Buchhandlungen steht.“

„Es ist sehr wichtig, dass wir erfahren, was in ihrem Roman geschieht…“ Der Sprecher wurde von seinem Nebenmann unterbrochen. „Sagen wir ihr warum. Dann wird sie wahrscheinlich kooperieren. Also, Frau Hannemann. Uns liegen drei ihrer Manuskripte vor. Alles, was sie darin geschildert haben, ist wirklich geschehen.“

„Jetzt wollen sie mich aber auf den Arm nehmen.“ Heike sah die drei entgeistert an. „Das sind Fantasy-Geschichten. Mit Zauberern, Hexen, Dämonen und so´nem Kram. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass es so etwas gibt.“

„Genau das stimmt aber. Die Frage ist nun, ob die Dinge geschehen, weil Sie sie schreiben oder ob Sie schreiben, was geschehen wird. Wovon handelt also ihre Geschichte?“

Ungläubig saß Heike einige Minuten mit offenem Mund da, bevor sie antworten konnte.

„Der Arbeitstitel des Romans ist „Kabale“. Es handelt von zwei Zaubererzirkeln, die sich schon seit Jahren bekämpfen. Nun hat einer der Zirkel die Möglichkeit die Oberhand zu gewinnen. Aber mal im Ernst. Das kann doch nicht Wirklichkeit sein.“

Die drei Männer tuschelten leise miteinander. Heike konnte kein Wort verstehen.

„Können sie sagen, wie der zweite Zirkel gewinnen will?“

Heike konnte die Spannung im Raum fast greifen. Sie überlegte.

Wenn die Männer Recht hatten… Das war ihre Chance hier rauszukommen.

„Ich kann ihnen alles aufschreiben. Das ist einfacher. Ich brauche nur einen Stapel Papier, einen Stift und Ruhe.“

Die Männer tuschelten wieder miteinander.

„Gut. Wir werden alles arrangieren.“ Dann verließen sie den Raum und ließen Heike allein zurück.

Wenige Minuten später trugen sie einen Tisch, einen Bürodrehstuhl, einen Stapel Kopierpapier und eine Schale mit verschieden Kugelschreibern herein.

Heike setzte sich. „Ich kann nur schreiben, wenn mir niemand über die Schulter schaut. Das macht mich nervös und mir fällt nichts ein“, erklärte sie, als einer der Männer neben ihr stehen bleiben wollte.

Seufzend drehte er sich um und ging zu seinen Kumpanen.

Heike begann zu schreiben.

Nach zehn Minuten hatte sie eine halbe Seite notiert. Ein Poltern hinter ihrem Rücken lies sie lächeln. Langsam drehte sie sich um. „Damit ist diese Frage dann also geklärt. Die Dinge geschehen, weil ich sie aufgeschrieben habe.“

Heike stand auf und ging zur Tür. Wie sie geschrieben hatte, ließ sie sich ohne Probleme öffnen. Sie stieg über die drei besinnungslos auf dem Boden liegenden Männer und verließ den Keller.

Auch im übrigen Haus begegnete ihr, wie sie es gewollt hatte, niemand. Unbehelligt konnte sie es verlassen und nach Hause zurückkehren.

Sie verschloss die Wohnungstür und legte sofort die Kette vor. Aus der Wohnung neben ihr klangen Weihnachtslieder herüber.

Nachdenklich setzte sie sich an ihren Schreibtisch.

„Verrückt“, sagte sie laut „Mal sehen, was ich mit dieser Fähigkeit anfangen kann.“

Sie startete ihren PC, öffnete ihr Schreibprogramm, dachte an Frieden auf Erden und begann zu schreiben.

-ENDE-

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