Sekhmets Rückkehr

 

„Es ist Zeit.“

Das Flüstern riss mich aus meinen Gedanken.

„Du musst gehen. Es ist vollbracht. Deine Herrin ist da und hat den Bann gebrochen.“

Die Dunkelheit, diese wundervolle, heimelige Dunkelheit, wich einem Dämmerlicht.

Langsam spürte ich meinen Körper.

Ein tiefes, lautes Rumoren ließ mich zusammenfahren.

Hunger. Ich hatte Hunger.

„Geh. Du musst Nahrung zu Dir nehmen.“

Nahrung. Ich dachte an meine letzte Mahlzeit. So viel Zeit war vergangen.

Blut. Ich hatte Blut getrunken. Damals. Viel Blut.

Was war passiert?

Vater. Er hatte mich in diese Höhle gebracht, als ich ihm zu mächtig wurde.

Wie viel Zeit wohl vergangen war?

Langsam kehrten meine Erinnerungen zurück.

Sekhmet, die Mächtige, die Herrin des Zitterns, hatte mich erhoben.

Ich wurde nicht getötet wie andere Menschen, sondern durfte mich ihr anschließen.

Wir waren zunächst nur eine kleine Gruppe. Tagsüber schliefen wir in den herrlich dunklen Grabhöhlen der ehemaligen Regenten, nachts dann labten wir uns gemeinsam am Blut des ägyptischen Volkes.

Dann war Sekhmet plötzlich verschwunden.

Die Kräfte, die sie uns hinterlassen hatte, sorgten aber dafür, dass niemand uns aufhalten konnte.

Wir waren wie Götter. Unsere Macht wuchs stetig, so auch die Zahl unserer Anhänger. Sie brachten uns Menschen, deren Blut wir trinken konnten. Die treuesten unserer Anhänger verwandelten wir in unseresgleichen.

Dann kam der Tag, der alles veränderte.

Mein Vater und die übrigen Priester hatten unsere Schlafstätten entdeckt.

Ich hörte die Schreie der Brüder und Schwestern des Blutes.

Die Priester hatten Feuer in den Höhlen gelegt. Nahezu das einzige Mittel, uns zu vernichten.

Ich konnte nicht helfen. Die Sonne stand noch am Himmel und ihre Macht war genauso verheerend für einen Vampir, wie das Feuer.

Dann hörte ich sie kommen.

Mit Fackeln in den Händen stürmten sie meinen Unterschlupf.

Es waren zu viele Gegner für mich. Zumindest, bis die Nacht hereingebrochen war. Dann hatte ich die ganze Macht.

Ich blickte in das harte, entschlossene Gesicht meines Vaters. Mir war klar, dass ich keine Gnade erwarten konnte, also versuchte ich nicht, um mein Leben zu flehen.

Sie stürzten sich aber nicht mit ihrem Feuer auf mich. Reglos blieben sie in einem Halbkreis vor mir stehen und warteten.

Dann, ich hoffte schon, dass sie mich meiner Kräfte wegen verschonen würden, öffnete sich die Menschenmauer und eine geöffnete schwarze Holzkiste wurde vor mich geschoben.

Erstaunt blickte ich meinen Vater an.

Aber sein Gesicht zeigte keine Regung.

Er zeigte lediglich auf die Kiste.

„Steig hinein!“

Was sollte das? Nun, wenn sie meinten, mich in solch einem zerbrechlichen Behältnis gefangen halten zu können, sollten sie sich wundern.

Zwei Priester trieben mich mit ihren Fackeln auf die Kiste zu.

Mir blieb nichts anderes übrig, als hinein zu steigen. Diese Unverschämtheit würden sie bald bereuen. Ich spürte, dass der Sonnenuntergang nicht mehr lange auf sich warten ließ.

Mit einem lauten Poltern schloss sich der Deckel.

Dann merkte ich, dass die Kiste angehoben wurde.

„Beeilt euch!“, hörte ich Vater mit gedämpfter Stimme rufen „Bald geht die Sonne unter, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“

Ja! Bald geht die Sonne unter, und ihr werdet für euren Frevel blutig bezahlen!

Die Kiste wurde auf einen Pferdewagen gehoben, und schon setze der sich in Bewegung.

Nicht mehr lange, und meine Zeit würde kommen. Ich spürte meine Kräfte wachsen.

Der Wagen hielt an, und die Kiste wurde heruntergehoben.

Ich roch drei Menschen. Roch ihre Anstrengung, ihre Angst.

Recht so. Die Angst war begründet. Nur noch wenige Minuten, bis ich frei war. Und sie mir als Appetithäppchen dienten.

Die Kiste wurde abgesetzt, und die Menschen entfernten sich.

Es war soweit.

Die Sonne war untergegangen, und ich verfügte über meine volle Kraft.

Ohne Anstrengung öffnete ich die Kiste und stieg heraus.

Ich befand mich in einer großen Höhle. Vor der kleinen Öffnung standen die drei Menschen und schienen zu warten. Offenbar auf ihren Tod. Gut. Sollte er ihnen zuteil werden.

Ich fletschte meine Zähne und stürzte mich auf die Frevler, prallte aber gegen eine unsichtbare Wand.

Irritiert hörte ich, wie die Menschen erleichtert aufatmeten.

„Der Weise Mann hatte also Recht“, meinte der Anführer. „Aus dieser Höhle kann kein Vampir entkommen. Lasst uns gehen. Wir haben das Übel besiegt!“

Ohne mich noch einmal anzusehen, drehten sie sich um und gingen zurück zu ihren drei Pferdewagen, die nahe der Höhle standen.

Ich wollte ihnen hinterher rufen. Wollte bitten, flehen, drohen. Doch kein Laut drang über meine Lippen.

Der Eingang zur Höhle wurde kleiner und kleiner.

Trotz meiner scharfen Augen konnte ich nichts erkennen.

Dann überfiel mich bleierne Müdigkeit.

Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Ich verspürte keinen Hunger. Die Höhle nährte mich. Alles Körperliche viel von mir ab. Mir blieben nur meine Gedanken.

Fünf tausend Jahre nur Gedanken.

Dann kam das Flüstern.

„Geh. Sekhmet ist zurückgekehrt. Deine Herrin wartet.“

Der Eingang zur Höhle, der seit tausenden Jahren verschlossen war, öffnete sich.

Ein voller Mond beleuchtete die Dünen, die sich im Laufe der Jahrtausende immer näher an den Bergkamm herangeschoben hatten. Ich verließ mit unsicheren Schritten die Höhle.

Zum ersten Male seit fünftausend Jahren.

Und dann sah ich sie. Sekhmet stand nur wenige Meter neben dem Höhleneingang. Ihre weiten Umhänge wehten im Wind. Neben ihr sah ich auf dem glitzernden Sand zwei leblose Körper liegen.

„Trink, meine treue Ky´Ra!“ Sie deutete auf die Körper. „Und dann komm! Wir haben viel zu tun!“

Ausgehungert stürzte ich mich auf die beiden Männer, die neben meiner Herrin lagen. Bei vollem Bewusstsein, aber unfähig, sich zu bewegen. Ich sah mit Vergnügen das Grauen in ihren Augen, als sich meine dolchähnlichen Zähne ihren Hälsen näherten. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte mich, als die ersten Tropfen des roten Lebenselixiers durch meine Kehle rannen. Ich trank und trank, bis auch der letzte Tropfen in mir war. Dann endlich war mein Durst fürs Erste gestillt.

„Reich mir deine Hand. Wir müssen gehen. Die Nacht der Untoten ist kurz, und wir haben für lange Zeit nur diese eine Nacht.“

Ich ergriff die Hand der Herrin. Ihre wunderbar kalte Haut ließ mich erschauern.

Der Wind wirbelte den Sand auf, als wir uns in die Lüfte erhoben. Himmelhoch und nahe den Wolken flogen wir dahin. Dann sah ich den Schein vieler Feuer unter mir, und wir glitten zum Erdboden zurück.

Sekhmet erzählte, was uns erwartete. „Die Menschen führen Krieg. Bruder gegen Bruder, Schwester gegen Schwester und Nachbar gegen Nachbar. Wir werden in dieser Nacht reiche Ernte einfahren.“ Die Herrin ließ meine Hand los, und wir stürmten zum Schlachtfeld.

Häuser aus Stein und Lehm waren in den vergangenen Jahrtausenden errichtet worden. Nun waren die Menschen dabei, sie mit ihren Bomben und Raketen zu zerstören. Niemand nahm Rücksicht auf das Leben der Anderen. Weder auf das der Männer, Frauen, Kinder noch Greise.

Wir labten uns an den Kriegern. Einige wurden auserwählt und folgten nun auch der Herrin des Schreckens.

Überall auf der Welt fanden wir Orte des Gemetzels, und Sekhmets Heer wurde größer und größer.

Doch schon bald, zu bald für meinen Geschmack, brachte uns die Herrin zur Höhle zurück. Der neue Tag brach heran.

„Geht hinein und wartet! Schon bald werde ich euch wieder zu mir rufen, meine Kinder! Und wir werden dann endgültig die Macht über die Erde ergreifen. Die Saat des Hasses und der Gewalt, die ich ausgesät hatte, würde bald aufgehen. Und unsere Zeit kommen. Afghanistan, Ägypten, Somalia und Syrien, Ukraine waren nur einige der Länder, deren Bürger ich bereits infiziert hatte.

Wir betraten die Höhle, und die Öffnung schloss sich langsam hinter uns. Doch ich wusste, dass die Herrin wiederkommen und uns wieder zu sich holen würde. Dann wären wir wieder wie die Götter.


 

 

 

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